„Die Beziehung zu einem Kind ist keine Einbahnstraße. Das Kind soll nicht nur das entgegennehmen, was wir ihm geben wollen. Wir müssen auch bereit sein, das entgegenzunehmen, was Kinder uns geben.“ – Jesper Juul
Doch was passiert, wenn wir nicht bereit sind, das entgegenzunehmen, was unsere Kinder uns geben? Wenn sie mit dem, was sie uns geben wollen, den Finger genau in unsere Wunden legen und die Emotionen dann wieder Oberhand gewinnen? Oft übernehmen wir in solchen Situationen sogar die Erziehungsmethoden unserer Eltern, unter denen wir selbst gelitten haben, weil wir von unseren Emotionen überrollt werden. Dann sind wir nicht mehr im Kontakt mit unseren Kindern und auch nicht mit uns selbst. Wir spüren uns nicht mehr und auch unsere Kinder können wir nicht mehr spüren und auch nicht sehen.
Die aufkommenden Emotionen und Gefühle haben immer einen Sinn, allerdings nicht in dem aktuellen Kontext der Situation. Wir reagieren also mit unseren Gefühlen nicht auf die aktuelle Situation, sondern auf alte Erfahrungen und alten verdrängten Schmerz. Diese Art und Weise zu reagieren, haben wir in der Kindheit entwickelt, um uns an unsere Ursprungsfamilie anpassen zu können, sozusagen haben wir damit eine Überlebensstrategie entwickelt.
Allerdings sind diese Reaktionsmuster heute weder sinnvoll noch nützlich – eher im Gegenteil, sie bringen neue Verletzungen für uns selbst und die Menschen in unserer Umgebung. Dies zu erkennen ist der erste Schritt heraus aus dem Hamsterrad des stereotypen Reagierens auf äußere Reize. Raus aus dem Autopilot. Allerdings reicht die Erkenntnis alleine nicht aus um etwas zu verändern. Dies wird erst möglich, wenn wir ganz bewusst neue Erfahrungen machen (wollen), die die alten Muster überflüssig machen und wir diese dann durchbrechen können.
Es ist nicht immer wichtig, zu wissen, welche Verletzungen und/oder traumatischen Ereignisse in unserer Kindheit und auf unserem weiteren Lebensweg stattgefunden haben. Auch zur Bewältigung früherer Verletzungen kommt es nicht so sehr darauf an, detailliert zu wissen, was passiert ist. Im Gegenteil, dies kann sogar kontraproduktiv sein und wir reinszenieren so unser Trauma.
Viel wichtiger ist es, bewusst wahrzunehmen, was wir heute spüren, wie wir heute in Beziehung gehen, oder was uns daran hindert, echten Kontakt aufzubauen. Es geht darum, wirklich zu fühlen und nicht nur das Gefühl zur Kenntnis zu nehmen. Zu fühlen ohne zu beurteilen, zu verurteilen, und ohne zu bewerten.
In meiner Arbeit möchte ich Euch dazu ermutigen, liebevoller mit Euch und Euren Gefühlen zu sein. Die Arbeit mit tiefgehenden Mustern, Prägungen und Konditionierungen ist ein emotionaler Kraftakt und es braucht Raum und Zeit. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es möglich ist, diese alten Wunden zu heilen und seinem Trauma einen Sinn zu geben.
Also, Ihr dürft gnädig mit Euch sein und Euch selbst eine gute Freundin werden. Mit der Zeit werdet Ihr lernen, dass Ihr entscheiden könnt, wie und wann Ihr reagieren wollt und seid so immer weniger auf bestimmte Reaktionsmuster festgelegt. In diesem Zusammenhang stehen wir vor einer existentiellen Wahl:
Will ich verantwortlich sein für mein Leben, meine Gefühle und Handlungen – oder will ich Opfer sein?
Wenn Ihr Euch selbst eine gute Freundin werden könnt, dann könnt Ihr auch bereit sein, das entgegenzunehmen, was Eure Kinder Euch geben wollen.